21.08.2015 |
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Flibanserin – Lustpille für die Frau
oder Das Geschäft mit der Nicht-funktionierenden Sexualität
Als unser erster Artikel über Flibanserin im Dezember 2009 veröffentlicht wurde, war Boehringer Ingelheim noch Besitzer des Patentes der großen neuen Attraktion des „Viagra für Frauen“.
Nach der ersten gescheiterten Zulassungsprüfung verkaufte das deutsche Pharmaunternehmen sein Patent an die US-Firma Sprout Pharmaceuticals, die es nun, nach einer zwischenzeitlich weiteren Ablehnung, geschafft hat, dass der Beratungsausschuss des FDA (US Food and Drug Administration) ein drittes Mal über die „Lustpille für Frauen“ abgestimmt und mit einer 18-6 Mehrheit seine Zulassung am 18.8.2015 für die Behandlung hypoaktiver Sexualfunktionsstörungen bewilligt hat. Noch im Herbst soll es in den USA unter dem Namen „Addyi“ auf den Markt kommen.
Wenn ich die Artikel jetzt im Vergleich zu unserem vor fast 6 Jahren lese, frage ich mich, was die FDA dazu gebracht hat, Flibanserin jetzt plötzlich zuzulassen. Die Studienergebnisse sind genauso ident wie die Liste der Nebenwirkungen – die ist vielleicht sogar länger geworden und scheint nun vor allem die Gefahr der Einnahme in Zusammenhang mit Alkohol dazugekommen zu sein.
Angeblich waren es die „Frauenrechtler“, die gemeint haben, die Frau brauche die gleichen Rechte wie der Mann. Und wenn es für den Mann was gibt, was die Potenz steigert, damit er länger, oder überhaupt kann, dann brauche auch die Frau die Chance, ihre Lust, die bekannterweise aus unterschiedlichsten Gründen im Allgemeinen reduziert ist, zu steigern.
Hier beginnt schon der erste Betrug: Es wird der Frau eingeredet, ihre Lustlosigkeit sei organisch bedingt und eine rosa Pille könne alles wieder gut machen. Der Druck „zu funktionieren“ steigt enorm. Die Ergründung der Ursache der Lustlosigkeit verschwindet in den Hintergrund.
Frauen werden dadurch zum Spielball von Männern. Männer dürfen aufgrund der täglichen rosa Pille einmal mehr im Monat Geschlechtsverkehr mit ihrer Frau haben.
Ähnlich wie die Anti-Baby-Pille, die der Frau Freiheit bringen sollte, und de facto den Männern höhere Verfügbarkeit der Frauen gebracht hat, da diese weniger genau ihre Sexualpartner auswählen und “allzeit bereit“ sind.
Männern wird durch Viagra die Möglichkeit gegeben, mit seiner bestehenbleibenden oder sogar erst entstehenden Erektion im besten Fall eine Frau zu befriedigen und danach auch selber zum Orgasmus zu kommen, was ihm komplette sexuelle Befriedigung bringt.
Für die Frau bedeutet mehr Geschlechtsverkehr durch gesteigerte Lust aber leider nicht unbedingt auch Orgasmus. Gerade die Orgasmus-Losigkeit beim Geschlechtsverkehr ist die weitaus häufigste Ursache der Lustlosigkeit. Durch die Steigerung der Lust kann der Mann nicht plötzlich mehr, um die Frau zum Orgasmus zu bringen. Durch die Einnahme einer Pille wird die Frau auch nicht plötzlich den Orgasmus durch den Mann einfordern, so wie sie es im Idealfall tun sollte. Und was bringt ihr dann „mehr Lust“, wenn Frau wieder nicht befriedigt ist?
Wo ist hier das „Recht“ der Frau, die „Gleichberechtigung“? Wo liegt der Vorteil für die Frau?
Flibanserin kann nicht mit Sildenafil (Viagra) verglichen werden, daher ist der Ausdruck „Viagra für Frauen“ sowieso verfehlt:
Abgesehen von der Stärke der ausgewählten Namen – während „Viagra“ sehr kraftvoll klingt, weiß ich nicht so recht, was ich mit „Addyi“ assoziieren soll – klingt eher unsicher stotternd, verniedlichend – was hat das mit lustvoller Frau zu tun, die weiß, was sie will?
Die beiden Medikamente unterscheiden sich aber vor allem in der Einnahme, der Wirkung, und auch im Ort des Wirkens.
Hier nochmal ein kleiner Exkurs zum „echten“ Viagra: Die Hauptwirkung der blauen Pille ist, dass sie den Abbau des Botenstoffes verhindert, der das Erweitern der Blutgefäße im Penis verursacht. Als Folge fließt mehr Blut in den Penis, was wiederum zu einer Erektion führt. Diese Wirkung setzt sexuelle Erregung voraus. Dies ist auch gut zu steuern, da Viagra lediglich 30 Minuten vor dem gewünschten Geschlechtsverkehr eingenommen werden muss.
Flibanserin ergänzt bzw. ersetzt zwei Neurotransmitter und wirkt hauptsächlich im Gehirn. Es soll den Spiegel des lusthemmenden Hormons Serotonin senken und im Gegenzug die Konzentration des Glückshormons Dopamin und des anregenden Hormons Noradrenalin im Blut anheben, wodurch die weibliche Libido gesteigert werden kann. Es setzt also keine aktuelle sexuelle Erregung voraus, sondern soll eine allgemeine Lusterhöhung/ (Verfügbarkeit?) verursachen. Flibanserin war ursprünglich als Antidepressivum entwickelt worden und muss täglich eingenommen werden – auch die Nebenwirkungen müssen daher täglich in Kauf genommen werden.
Wie gut das Medikament tatsächlich funktioniert, ist noch nicht bekannt. Der Ausschuss konzentriert sich normalerweise vor allem auf das Dasein oder besser noch das Nicht-Dasein von negativen Nebenwirkungen.
Und die Nebenwirkungen sind nicht zu unterschätzen: Müdigkeit, Übelkeit, niedriger Blutdruck und Schwindelanfälle wurden häufig berichtet, verstärkt besonders bei gleichzeitiger Anwendung von Antidepressiva, Migränemittel, der Antibabypille oder Alkohol.
Aufgrund der möglichen schweren Nebenwirkungen hat die FDA die Zulassung an Auflagen geknüpft: Flibanserin ist ausdrücklich nicht anzuwenden, wenn der verminderte Sexualtrieb auf psychische oder körperliche Beschwerden, Beziehungsprobleme oder den Einfluss von Medikamenten oder anderen Drogen zurückzuführen ist. Fragt sich nur, was dann noch überbleiben soll.
Übrigens: Bereits kurz nach der Zulassung von Flibanserin wurde der Hersteller Sprout Pharmaceuticals von der kanadischen Pharmagruppe Valeant um eine Milliarde Dollar übernommen.
Es lebe das Geschäft mit der Nicht-funktionierenden Sexualität!
elr
Wir fragen Frau Dr. Julia Rüsch, Ärztin für Allgemeinmedizin und psychosomatische Medizin in Wien und Raaba, die mit der Arge Psychosomatik Loosreport eine der größten Studien über Familie-Sexualität-Psychosomatik führt.
Die Frau: Frau Dr. Rüsch, was sind die häufigsten Ursachen für Lustlosigkeit bei Frauen?
Dr. Julia Rüsch: Sexuelle Lust ist ein natürliches Empfinden, positive Energie, die das Leben lebenswert macht und unsere Fortpflanzung sichert. Sie ist wie jede andere Emotion von der momentanen Lebenssituation abhängig. Die momentane Lebenssituation führt dazu, dass unterschiedliche Botenstoffe ausgesendet werden, welche im Blut im Hormonspiegel gemessen werden können. (so zeigen Studien, dass Männer, denen von einer für sie attraktiven Frau Blut abgenommen wird, der Testosteronspiegel in diesem Moment höher ist als wenn die Blutabnahme durch für sie „neutrale“ ist gleich asexuelle Personen stattfindet.)
Frauen verspüren dann die meiste sexuelle Lust, wenn sie wissen, dass sie befriedigt werden wollen und auf einen Mann treffen – und sei es auch nur in Gedanken - von dem sie wissen oder zumindest annehmen, dass er sie befriedigen kann, also zum Orgasmus bringen kann.
Grundsätzlich erwartet jede junge Frau, die noch keinen Geschlechtsverkehr hatte, dass dieser für sie befriedigend ist, also mit einem Orgasmus der Frau den Höhepunkt erreicht. Das ist die natürliche, biologische Einstellung. So findet es auch in der Tierwelt statt, da bei den Säugetieren erst dann das Männchen die Möglichkeit hat, im Weibchen zu kommen, wenn das Weibchen bereits durch den Orgasmus die Muskeln so sehr angespannt hat, dass das Männchen im Weibchen drinbleiben kann.
Heute wird leider viel zu sehr berichtet, wie schwierig es ist, eine Frau zum Orgasmus zu bringen, und selbst Sexualexperten behaupten, dass der weibliche Orgasmus nicht das wichtigste ist und Frauen mehr Wert auf Beziehung als auf sexuelle Befriedigung durch Orgasmus legen, sodass Frauen beginnen, dies zu glauben. Von einem Mann würde niemand erwarten, dass er für Beziehung auf seinen Orgasmus verzichtet. Frauen wollen das auch nicht -In unserer Studie über den Zusammenhang zwischen Familie, Sexualität und Psychosomatik (www.loosreport.at) behaupten alle Frauen, bis auf vereinzelte Ausnahmen, dass der weibliche Orgasmus wichtig ist – dennoch verzichten sie darauf, wenn der Mann es nicht schafft, sie zu befriedigen und sagen es ihm noch dazu nicht einmal, dass er sie nicht befriedigt hat, weil sie ihn bemuttern und nicht verletzen wollen. Daweil wollen die Männer nicht angelogen werden und wenn sie Bescheid wüssten, würden sie sich mehr bemühen, ihre Frau zu befriedigen, da jeder Mann erst durch die Befriedigung der Frau tatsächlich sexuell befriedigt ist – ein Abspritzen alleine bringt zwar Entspannung, aber keine sexuelle Befriedigung.
Wenn nun Frauen häufig Geschlechtsverkehr haben, der für sie vielleicht anregend, geil, aber letztendlich ohne Orgasmus und damit nicht befriedigend ist, wird ihnen irgendwann einmal die sexuelle Lust vergehen. Anstatt dass sie den Mann dazu anleiten, wie er sie zum Höhepunkt bringen kann, lassen sie den Geschlechtsverkehr nur noch über sich ergehen. Dann ist es besser, sie stellen den Geschlechtsverkehr ein, sind „offiziell“ lustlos und müssen nicht mehr „herhalten“.
Die wenigsten Frauen „schmeißen den Mann raus“ und sind dann offen für einen Mann, der mehr auf sie eingeht und sich anstrengt, sie zu befriedigen (= Orgasmus) oder der vielleicht einfach mehr Erfahrung hat. Wenn sie dann aber immer und immer wieder auf Männer treffen, die sie nicht befriedigen können, geben auch sie irgendwann einmal auf. Und damit wird dann der Orgasmus nicht mehr so wichtig.
Die häufigste Ursache für die weibliche Lustlosigkeit ist also die schlechte Erfahrung beim Geschlechtsverkehr, also Geschlechtsverkehr, der für die Frau nicht befriedigend ist, sie nicht zum Orgasmus bringt.
Wenn Frauen in so einer Situation leben, mit einem Mann, von dem sie sexuell nicht befriedigt werden, steigt die Wut auf den Mann und auch auf sich selber, ohne dass dies bewusst wahrgenommen werden muss. Das führt zu einem Hormonungleichgewicht, welches die Basis für unterschiedliche Erkrankungen sein kann.
Die Frau: Wie ist es mit organischen Ursachen für die Lustlosigkeit der Frau?
Dr. Julia Rüsch: Die organischen Ursachen für Lustlosigkeit, wie zB chronische Darmerkrankungen, sind auch in dem eben erwähnten Zusammenhang zu sehen und es stellt sich die Frage, was war zuerst da. Die Lebenssituation ist bei jeder Erkrankung ausschlaggebend. Und nur, wenn man sich diese Lebenssituation bewusst macht und im Idealfall auch etwas daran ändert, kann es zu einer Besserung kommen.
Auch eine Depression als Ursache für die Lustlosigkeit kommt nicht aus dem Nichts und geht immer mit einer unbefriedigenden Lebenssituation und damit einem Hormonungleichgewicht Hand in Hand.
Die Frau: Was halten Sie von der in den USA neu zugelassenen „Lustpille für die Frau“? Kann diese eine Verbesserung für Frauen bringen?
Dr. Julia Rüsch: Nein, im Gegenteil. Sie erhöhen nur noch den Druck auf die Frauen. Viele sind ja froh, aufgrund der Lustlosigkeit nicht mehr herhalten zu müssen. Diese Tatsache wird oft überspielt und aufgrund der gesellschaftlichen Erwartung oder der Erwartung der Beziehung, den Mann befriedigen zu wollen, bzw ihn zumindest soweit „an der Stange zu halten“, dass er nicht fremd geht, ein Leid empfunden.
„Lustlosigkeit“ ist keine Erkrankung, sondern eine Reaktion auf eine Situation. Dies darf von der Pharmaindustrie nicht missbraucht werden.
Die Wirksamkeit von Flibanserin ist sehr fraglich. Die Studienergebnisse sind nicht sehr signifikant und die Nebenwirkungen sind durchaus beeinträchtigend und nicht zu unterschätzen. Antidepressiva greifen in den Hormon- und Neurotransmitter (beides Botenstoffe) – Haushalt massiv ein, und ein Ausgleichen des momentanen Ungleichgewichts wird durch Zufuhr von außen unmöglich gemacht.
Die Einnahme der Lustpille ist nur eine Symptombehandlung (sofern sie wirkt) und verdeckt die Ursache der Lustlosigkeit, was in der Folge zu schwereren gesundheitlichen Folgeerscheinungen führen kann.
Die Frau: Welche Möglichkeiten gibt es, die Lustlosigkeit ohne Pille zu heilen?
Dr. Julia Rüsch: Wie bereits schon erwähnt ist es primär erforderlich, sich seiner Lebenssituation bewusst zu sein, vor allem sich selber gegenüber ehrlich zu sein. Wie ist die momentane Situation? Die Situation mit dem Partner? Die eigene Zufriedenheit über den Verlauf des Lebens? Wodurch wird sie beeinflusst – zB eigene Werte, Erfahrungen, Moralvorstellungen, gesellschaftliche Vorstellungen ua? Erst dadurch kann man etwas an der Situation ändern.
Alleine die Vorstellung eines jungen Liebhabers lässt viele Frauen die sexuelle Lust wieder spüren.
Es ist wichtig, dass Frauen sich selber als Frauen wahrnehmen, in jeder einzelnen Situation des Lebens.
Die Frau: Was halten Sie eigentlich von Viagra?
Dr. Julia Rüsch: Auch Viagra ist sehr vorsichtig einzusetzen. Grundsätzlich reagiert der männliche Penis auf die Erregung der Frau. Wenn also die Frau nicht geil ist, im Moment keine Lust hat, befriedigt zu werden, oder auch generell keine Lust mehr hat, da der Geschlechtsverkehr für sie nicht befriedigend ist – wozu sollte dann der Mann eine Erektion bekommen?
Es gibt allerdings Umstände, die durch Medikamente oder Operationen hervorgerufen werden, bei denen der männliche Penis nicht mehr auf die Frau reagieren kann. In solchen Fällen verschreibe ich durchaus Viagra, allerdings gebe ich dem Patienten den Rat, die Tabletten seiner Frau zu geben, sodass sie entscheidet, wann er sie nehmen soll – nämlich nur dann, wenn sie tatsächlich Lust hat.
Dr. Julia Rüsch ist Ärztin für Allgemeinmedizin in Wien und Raaba
www.ruesch.info
Titelbild:
Venere dormiente con Cupido e Satiro, Luca Giordano, 1663. Urheber "Sailko" (wikimedia commons, 28.11.2013)
weitere Fotos:
"Pasión", Andrés Nieto Porras. Urheber: FlickreviewR (wikimedia commons, 12.8.2011)
"Frau als Sex Objekt", Gabriel S. Delgado C., Urheber: Max Rebo Band (wikimedia commons, 30.9.2009)
"Amor und Psyche", Antonio Canova, 1493, Detail. Urheber: Makthorpe (wikimedia commons, 13.2.2006)