Wo Ehrlichkeit keinen Platz findet
die-frau.at fragte die Politikwissenschaftlerin und Autorin des Buches „Ware Frau“ Mary Kreutzer nach ihren persönlichen Hintergründen und Motivationen bezogen auf das Thema Frauenunterdrückung, Sexarbeit und dem Verkauf der eigenen Befriedigung.
die-frau.at: In Ihrem Buch beschreiben Sie eine Situation, in der Joana einem verkauften Mädchen den Pass in die Hand drückt und es laufen lässt. Wurden gleiche Hilfestellungen bei der Recherche ermöglicht? Wurden die Frauen über ihre tatsächliche Rolle in der Gesellschaft aufgeklärt?
Mary Kreutzer: Bei der Recherche zu „Ware Frau“ war es nicht meine Aufgabe, sozialarbeiterisch tätig zu sein, sondern ein Verbrechen zu beleuchten und Aufklärungsarbeit zu leisten. Ich sehe die Rolle von JournalistInnen in erster Linie als demokratisch-politische. Es ging uns darum, der Wahrheit näher zu kommen und Fakten aufzudecken. Wir haben herausgefunden, dass Frauen im Frauenhandel nicht nur Opfer sind, sondern auch Täterinnen. Denn viele der ehemaligen Zwangsprostituierten wählen als Ausstiegsszenario, selbst zur Ausbeuterin zu werden. Es sind also Männer und Frauen, die vom Menschenhandel und auch vom Frauenhandel profitieren. Was kompetente Beratung und Hilfestellungen während unserer Interviews mit den Betroffenen und Opfern – ich verwende beide Begriffe – betrifft, so war und ist dies die Aufgabe von Joana Adesuwa Reiterer und dem von ihr gegründeten Verein EXIT. Sie war immer bei den Interviews dabei, und die befragten Frauen waren auch oft ihre Klientinnen.
die-frau.at: Wie läuft der Übergang von der Opferrolle einer Frau zu der Täterin ab?
Mary Kreutzer: Warum ehemalige Zwangsprostituierte zu Zuhälterinnen werden, also Opfer zu Täterinnen? Aus den bereits genannten Gründen, weil sie Geld für die Abzahlung ihrer eigenen „Reiseschulden“ brauchen, weil sie keine andere Chance für sich sehen. Psychologisch gesehen ist es oft so, dass selbst erlebter Schmerz, der einer Person angetan wird, an die folgende Generation weiter gegeben wird. „Warum soll es meine Tochter besser haben?“ Dasselbe Phänomen kennen wir in Österreich, wo aus geschlagenen Kindern oft schlagende Eltern werden. Auch bei weiblicher Genitalverstümmelung funktioniert auf diese Art und Weise die Fortführung eines Verbrechens an Kindern.
die-frau.at: Die meisten Eltern schicken ihre Kinder, Mädchen oder junge Frauen, ganz bewusst in die Zwangsprostitution. Der Hintergrund davon ist das Geld. Sollten diese Frauen noch Loyalität oder Toleranz zu ihren Müttern, Vätern verspüren?
Mary Kreutzer: Die Frage der Schuld und Täterschaft innerhalb der eigenen Familie ist eine sehr komplexe. Dass die Frauen und Mädchen, die in der Zwangsprostitution ausgebeutet werden, trotz allem ihren Familien Geld nach Hause schicken, sich nach Liebe und Anerkennung der Eltern und Brüder sehnen, ist psychologisch verständlich. Vielleicht kann man es so erklären, dass auch Kinder, die von ihren Vätern oder Onkeln sexuell missbraucht werden, die Schuld sehr oft bei sich selbst suchen und das Verbrechen jahrzehntelang verschweigen. Die Familien vieler Opfer von Menschenhandel sind Teil des Verbrechens. Das hängt auch damit zusammen, dass z.B. in Nigeria viele Männer in Polygamie leben und Dutzende Kinder haben. Zwei Burschen werden in die Schule geschickt, die anderen müssen alle arbeiten und zum Überleben der Familien beitragen und ein paar andere, oft die Mädchen, werden nach Europa zum „Arbeiten“ geschickt.
die-frau.at: „Jede Frau ist Prostituierte. Ich gebe meiner Ehefrau schließlich auch Geld“. Wie ist ihr Standpunkt zur Sexarbeit?
Mary Kreutzer: Mein Standpunkt zur Sexarbeit - und Sexarbeit ist nicht dasselbe wie Zwangsprostitution – ist folgender: eine Frau, die für 3.000 Euro pro Abend einen Freier bedient, ohne Zuhälter im Hintergrund, und die sich das Geld behält, macht es auch freiwillig, das ist wohl keine Frage. Es ist genau so freiwillig, wenn ich ein Job bei der Caritas mache, wo ich 1000 Euro im Monat verdiene. Sie macht das, weil sie viel Geld verdienen will, weil sie selbständig sein will, ein Leben in Autonomie gestalten will. Ob es wirklich ein Job ist, den sie gerne ausübt? Das muss man sich schon von Fall zu Fall ansehen. Aber dann stelle ich Ihnen die Frage: Ist es für Fabriksarbeiterinnen, die unter katastrophalen Bedingungen am Fließbahn für 200 Euro monatlich arbeiten, so viel besser? Wo sie nach 10 Jahren krank und fertig sind? An der Arbeit krepieren? Ist das freiwillig? Wir leben in einem Gesellschafts- und Wirtschafssystem, das auf Ausbeutung und Diskriminierung basiert, und zwar weltweit. Ich habe kein moralisches Problem mit Prostitution, sondern mit Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen. Ich bin säkular, ungläubig und Feministin. Natürlich würde ich mir eine Welt ohne Prostitution wünschen, aber dafür muss man das gesamte System ändern.
(vs)