Über Verschweigen, Verrat und Verantwortung in der Literatur
Wann ist eine Lüge eine Lüge? Ist Verschweigen nicht genauso ein Verrat? Auf die Suche nach den Antworten begeben sich der lateinamerikanische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez und der spanische Schriftsteller Javier Marias.
Manchmal bereitet die Wahrheit Schmerzen, manchmal weiß man nicht, wie man mit der neu erworbenen Information umgehen soll, obwohl es vielleicht gut war, dass sie ans Tageslicht kam. Wann ist aber der richtige Zeitpunkt, eine Wahrheit auszusprechen? Diese Frage stellt sich Javier Marias in seinem Roman „Mein Herz so weiß“ (dtv). Ein Mann begeht einen Mord für die Liebe, für die Möglichkeit mit der geliebten Frau zusammen zu sein. Sie darf aber davon nichts wissen. Doch eine Lüge ist wie ein Wurm, der so lange in der Erde irrt, eine irrsinnige Anzahl an unterirdischen Wegen erschafft, bis er am Ende doch an die Oberfläche dringt. Wenn man sich eine Idylle aufbaut, und man dann plötzlich gezwungen ist, diese zu verlassen, wird sie dann wie eine Seifenblase durch den Druck der gesellschaftlichen Vorstellungen platzen?
„Jeder zwingt jeden, sonst würde die Welt zum Stillstand kommen, alles würde in endloser Unentschiedenheit schweben.“ Ist also die Frau schuld am Mord: Sie wurde vom Mann so heiß geliebt, dass er es ohne sie nicht schaffen würde, weiter auf dieser Welt zu leben. Also war er dazu gezwungen, einen unschuldigen Menschen zu töten. Folgt man dieser Logik, würde die Frau vom Mann dazu gezwungen, Selbstmord zu begehen, da sie gegen ihren Willen mit der Wahrheit konfrontiert wurde?
Juan Gabriel Vásquez’ „Die Informanten“ (Kiepenheuer & Witsch) spielt in Kolumbien in der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Ein Mann, der ein Buch über diese Jahren schreibt, findet die bittere Wahrheit über seinen Vater heraus: Gabriel Santoro war ein Informant. Doch ist nicht schon das Schweigen ein Verrat? Und wie ist unter diesen Aspekten die politisch-kulturelle Größe des Vaters einzuordnen? Und wie soll sich nun der Sohn verhalten? Soll er die Wahrheit über seinen Vater ans Licht bringen? Auf der Suche nach den Antworten und Lösungen fällt er unfreiwillig selber immer weiter in der Strudel des Schweigens.
In beiden Romanen geht es um die Lüge und die Frage, ob und wie man sie aufdecken soll. Ein Spiel, das auch den Leser mit seiner eigenen Verantwortung konfrontiert.
(vs)
Foto: Deutscher Taschenbuchverlag