Wer öfters seinen Arbeitsplatz wechselt, stößt immer wieder mal auf ein bezauberndes Phänomen: Vereinzelte Kollegen, häufiger Kolleginnen, verblüffen jeden Tag mit neuer, sehr adretter Kleidung. Das können Röcke mit einem büscheligen Strauß von Falten im Schritt sein, ein hellbrauner Anzug mit streng geschnittener Hose, schwarz glänzende Blusen oder ein wadenlanger Popelinemantel für Männer, die eher eine überzeitliche Schönheit ausdrücken als den letzten Mode-Schrei. Als unbedarfter Mann von der Straße staunt und rätselt man über diese Kleidungsvielfalt. So scheint es, diese Frauen müssten viel Geld dafür ausgeben, zuhause Schränke voller Klamotten horten, ureigenste Vorlieben für bestimmte Modelle entwickeln und beinahe permanent darüber tüfteln, was sie genau nach der aktuellen Mode für diesen oder jenen Anlass anziehen sollten.
Spricht man mit einer jener besonders gut gekleideten Damen, dann überrascht es kaum, wenn sie bekennt, dass sie sich seit jeher, seit dem ersten Impuls zu Farbe und Form in der Pubertät, sorgfältig um ihre zweite Haut gekümmert hat. Übersiedelt das Mädchen zwecks studieren in eine Großstadt, dann erhält es auf seine individuelle Art, sich zu kleiden, zunehmend Rückmeldungen, Komplimente, Feedback. Und wird auch auf diese Weise zur Dame. Nach dem Eintritt ins Arbeitsleben gewinnt die tolle Kleidung neben der ästhetischen und emotionalen Qualität des sich Wohlfühlens noch die Bedeutung, dass man es gut gekleidet einfach einfacher im Beruf hat. Frau wird gleich auf den ersten Blick ernst genommen, wenngleich explizites Feedback über die Stilvariationen eher selten ist. Die Kleidungskoryphäen legen es meist gar nicht auf öffentliches Dauerlob an, weil sie als moderne Frauen sehr im Job engagiert sind, sodass sie kaum mitbekommen, wenn sich andere bei ihrem Anblick die Augen verrenken. In diesem Sinne halten sie es für gänzlich aus der Luft gegriffen, wenn man die Frage stellt, ob sich andere schon einmal vor ihrer Aufmachung gefürchtet haben, gleichsam als Übersteigerung des Ernstnehmens. Das wäre zu eventuell denkbar, wenn diese Damen tatsächlich tagtäglich in funkelnagelneuen Designerstücken anrauschen würden wie Lady Gaga. Aber die meisten Damen legen es ja auch nicht auf extravagante, buchstäblich ins Auge stechende Modeblüten an, sondern greifen vorwiegend zu Vintage-Stücken, wie frau sie günstig auf Flohmärkten erhält. Mitunter werden diese Stücke nachgeschneidert, denn auf dem Flohmarkt gibt es ja nur eine Größe. Eine Nerzkappe kann man sich Second Hand für ein paar Euro angeln, während sie neu ein paar hundert Euro kosten würde. Durch Blättern in Modezeitschriften hält sich frau am Laufenden, aber nicht am Mode-Rennen. Dieses birgt die Gefahr, sich durch Übertreibungen wie etwa durch ein stechend zitronengelbes Kostüm oder bei Hüten durch einen Hirschgeweih-Aufbau lächerlich zu machen. Mode sollte nicht lustig wirken, ist sie doch auch ein Indikator von Intelligenz. Das Kleidungscredo von „Alltags-Models“ zielt darauf ab, innerhalb der Dress-Codes, wie sie für die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche mehr oder minder bindend gelten, eine persönliche Note zu entfalten.
Jeans für Indoor, Lena Hoschek für den Außenverkehr
Das jeweilige Tages-Outfit wird ohnehin anhand von praktischen Erwägungen zusammengestellt. Zum einen wird auf die Wettervorhersage für den nächsten Tag geachtet, zum anderen darauf, habe ich morgen viel Außenverkehr. Sieht man die Dame mit Jeans im Geschäft, wird sie an dem Tag keine wichtigen Termine bei Banken, Geschäftspartnern oder Ämtern haben. Für die Vielzahl an verschiedenen Stücken überraschend, passt der Fundus in einen Kleiderkasten. Denn zum einen haben Alltags-Models oft Freundinnen oder Verwandte, die denselben Geschmack und dieselbe Konfektionsgröße haben, um ihre Stücke untereinander auszutauschen. Zum anderen hängen die Damen bei Weitem nicht so an ihren Schätzen wie etwa Büchersammler. Sachen, die schon ein Jahr nur auf der Kleiderstange hängen, werden gerne selbst wieder weggegeben. Kleidungsfans sind nicht die verbohrten Sammlerinnen, wie etwa die von Regalen oder Bananenschachteln überquellenden Büchersammler. Frauen haben auch eine gesetztere Einstellung zur oft behaupteten zunehmenden Schnelllebigkeit von Mode. Frauen seien von Natur aus stark an Neuem interessiert, erfährt man, das Tempo des Wechsels würde da nicht als besonders hetzend empfunden. Oft greift das Kleidungsfaible auf den Nachwuchs über. Allerdings nicht selten in die entgegengesetzte Richtung. Hat die Mutter z. B. eine Vorliebe für rosa oder grün, insbesondere für das helle Farbspektrum von Lena Hoschek, so behauptet sich der Sohnemann, indem er ganz selbst-stylisch zu den Kontrastfarben braun oder schwarz greift.
Die Emanzipation hat nichts daran geändert, dass Kleidung für Frauen erhebender ist als für Männer. Die Klugheit der Frau zeigt sich darin, dass sie den Faktor Kleidung gezielt als Mittel, etwas Bestimmtes zu erreichen, einsetzt. Durch eine andere Kleidung schlüpft man ja nicht gleich in eine andere Person, man fühlt sich anders, wenn man High Heels trägt oder feste Schuhe. Seltener wird sie gleichsam als Selbstzweck eingesetzt. So gibt es Beispiele, dass in manchen Amtsstuben eine neue Mitarbeiterin solange gemobbt wird, bis sie sich mit ihrer Lohnerhöhung die in diesem Büro obligaten schöneren, teureren Kleider kauft. Erst dann ist sie akzeptiert. Mit dieser Schärfe nehmen die Alltags-Models aber ihre Kolleginnen eher selten an die Kleidungskandare, doch geben sie schon die Marschrichtung auf ein hohes Style-Level vor. Statt engstirnigem Dresscode leben sie modische Vielfalt und Facettenreichtum vor.
Auch wenn nun einige Phantasie-Vorstellungen korrigiert und einige Tricks verraten wurden – der Zauber der Textilien lebt!
WaHo
Titelbild: »Trottin« und »Jeunesse dorée«, Das Album, IV, page 33, J. Wely