Sexualität wird einer Frau erst ab einem Alter von ab 20 Jahren zugeschrieben. Das Wort „Mädchen“ wird im täglichen Gebrauch viel öfter verwendet als das Wort „Frau“. Vor allem sind es Mütter, die es nicht glauben wollen, dass ihre Töchter erwachsen geworden sind, und haben meist sexuellen Neid auf ihre Töchter. „Für mich bleibst du immer ein Kind, MEIN Kind!“, pflegen unsere Mütter zu uns zu sagen. Trotz der Tatsache, dass die erste Monatsblutung im Normalfall im Alter von 12/13 Jahren eintritt, gibt es in der Gesellschaft die Erwartungshaltung, dass eine 13-Jährige kein sexuell aktives Leben führen kann.
Das Wissen über Sexualität wandert von Mutter zu Tochter. Und ist für die Mutter Sexualität „nichts Besonderes“, so wird die Tochter diese Theorie für die einzig wahre und richtige halten. So lernt Lisa Müller von ihrer Mutter, dass Sexualität „nichts Besonderes“ und „etwas, das ausschließlich für den Mann stattfindet“, zu sehen. Diese ihre Sicht gibt sie uns in ihrem im März herausgegebenen Buch „Nimm mich, bezahl mich, zerstör mich“, dass im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag gedruckt wurde, weiter. „Mein Leben als minderjährige Prostituierte“ lautet der Untertitel dieser unappetitlichen Darstellung einer nicht funktionierenden Sexualität.
Ein Redakteur und eine Redakteurin von die-frau.at haben Lisa im Café Westend neben dem Westbahnhof in Wien am Montag, den 25.März 2013, frisch aus Stuttgart, zu einem Interview getroffen. Sie war in eine karierte Bluse mit einem Gürtel, der ihre Brust "puschte", angezogen, trug Stöckelschuhe dazu. Ihre langen blonden Haare ließ sie auf die Schulter fallen, auffällige Ohrringe mit blauen Federn hat sie zur blauen Bluse kombiniert. Dazu einen roten Lippenstift. In einem schwäbischen Dialekt gab sie ihre Antworten auf für sie unerwartet neue Fragen.
Die-Frau: Wie hat Ihnen Ihre Mutter Sexualität vermittelt?
Lisa Müller: Es ist eine ganz neue Frage (Lisa lacht und schiebt sich mit der Hand die Haare aus dem Gesicht. Unsicher geworden, scheint sie jedoch nicht. Eher etwas verblüfft) Meine Mutter hat einen ziemlich offenen Umgang mit Sexualität gehabt und hat mich auch früh genug aufgeklärt. Sie hat gesagt, es ist etwas ganz Normales. Dass es etwas Tolles ist, hat sie nicht gesagt.
Die-Frau: Wie haben Sie den ständigen Partnerwechsel Ihrer Mutter gesehen?
LM: Ich habe es als ihre Angelegenheit gesehen, die mich nichts anging. Die Männer waren jedoch ziemlich nett. Aber ich glaube, ich habe immer gleich gerechnet, wie lange sie da sind. Ich hätte mir eigentlich gewünscht, dass jemand immer da ist. Ich wollte keinen neuen Vater, denn ihn habe ich bereits gehabt. Er war zwar nicht da, aber ich habe ihn gehabt. Ich dachte mir immer, die Männer gehen bald weg, bis auf einen, mit dem sie nach wie vor zusammen ist. Mit der Zeit ist es mir dann auch egal.
Die-Frau: Haben die Partner Ihrer Mutter jeweils Anmachsversuche bei Ihnen gemacht?
LM: Niemals.
Die-Frau: Finden Sie, hat Ihre Mutter jeweils Orgasmen erlebt?
LM: (Diese Frage bringt ihr ein wenig Farbe ins Gesicht) Ich weiß nicht, warum meine Mutter es machte. Ob sie es wollte, oder ob sie irgendwelche Vorteile davon hatte. So direkt haben wir nie gesprochen. Ich habe sie auch nie gefragt, ob sie Spaß beim Sex hatte oder nicht.
Die-Frau: Haben Sie beim ersten Mal das Bedürfnis nach Ihrer Befriedigung gehabt?
LM: Bei meinem ersten Mal ging es ausschließlich um Bestätigung. Es war aber bei mir nie so. Ich habe eine andere Beziehung zum Sex. Es war immer ein Wettkampf unter den Freundinnen. Spaß war dabei nie ein Thema.
Die-Frau: Haben Sie nie einem Mann gesagt, dass er Sie nicht befriedigt?
LM: Das wollte ich auch nicht, weil ich andere Gefühle habe und es ist dann nicht schön, wenn man so was sagt.
Die-Frau: Wäre es nicht für ihn eine Möglichkeit sich zu steigern, sich zu verbessern?
LM: Es geht mich nichts an. Und wenn das eine andere stört (dass ihr Freund sie nicht befriedigt: Anm. der Redaktion), dann soll sie es bei ihm machen. Ich habe auch nie vorgehabt, eine Bindung einzugehen.
Die-Frau: Wie sehen Sie eine Mann-Frau-Beziehung?
LM : I ch lebe mittlerweile in einer Beziehung und es ist alles super und toll. Ich will jede Sekunde mit ihm verbringen. Das wollte ich aber früher gar nicht. Ich wollte niemanden an mich heran lassen. Es war immer eine Mauer um mich herum, die mittlerweile schon gar nicht mehr da ist, zumindest bei ihm nicht.
Die-Frau: Wie haben sie Zustimmung von Max, der es ihnen erlaubt hat, anschaffen zu gehen, empfunden (Anm. der Redaktion: Max ist ein älterer Partner von Lisa (vermutlich schwul), der, nachdem er von ihrer Tätigkeit erfährt, ihr es erlaubt anschaffen zu gehen, wenn er dafür einen Drittel kassieren kann. Das Geld hat er vermutlich für Drogen für sich und Lisa gebraucht) sich einverstanden erklärt?
LM: Damals war es mir ganz recht, wie es war. Anders dachte ich es mir, dass ich ihm gar nichts wert sein kann, wenn er so etwas zulässt. Ich hätte ihn damals ganz einfach verlassen sollen. Ich habe ihn vor die Wahl gestellt: entweder er akzeptiert es, oder ich gehe. Aber normal ist es auf keinen Fall. Wenn ich es heute erleben würde, hätte ich gleich gesagt: jetzt gehe ich aber trotzdem.
Die-Frau: Sexualität ist...?
LM: Nichts Besonderes. Ich kann hier Kaffee trinken oder Sex haben. Ich glaube, dass es für den Mann viel wichtiger ist als für die Frau. Ich kenne es von den Freundinnen. Ich weiß nicht, wie es bei den anderen Menschen ist, in meinem Umfeld ist es aber so.
Die-Frau: Eine Frau ist...?
LM: (Verwirrtes Lachen) Ok... Was sind das für Fragen? (sehr unsicher und bedeutungslos) Sie sind eine Frau, ich bin eine Frau.
Die-Frau: Wie sehen Sie die Rolle einer Mutter? Welche Rolle spielte Ihre Mutter in Ihrem Leben?
LM: Eine wichtige. Ich habe sie nie als Vorbild gesehen. Und sie war für mich eher eine gute Freundin. Meine Mutter war ziemlich locker in ihrer Erziehung. Was sowohl schlecht, aber auch gut war.
Die-Frau: Hätte sie Sie von ihren schmutzigen Geschäften geschützt, hätte sie rechtzeitig Zeichen dafür gegeben?
LM: (sehr eifrig und überzeugt) Ich gebe meiner Mutter keine Schuld. Ich glaube, keine Mutter will es wahr haben, dass ihr Kind so etwas macht. Klar hat sie mehrmals nachgefragt. Ich war aber selbst ein schwererziehbares Kind. Ich mache ihr kein Vorwurf darüber.
Die-Frau: Finden Sie es nicht, dass sich Ihre Mutter viel zu wenig für Sie interessiert hat? Weil Sie Ihnen jede Lüge abgekauft hat?
LM: Ich glaube sie hat selbst genug zu tun gehabt. Sie hat sich schon für mich interessiert, nur was hätte sie machen sollen? Sie hätte mich einsperren können. Aber das hätte nicht geholfen, denn ich hätte noch mehr den Wunsch danach, das zu machen, was ich will. Ich glaube, es wäre schwer gewesen, mich zu kontrollieren.
Die-Frau: Welche Art von Männern haben Sie "bedient"?
LM: Ich glaube auch verheiratete Männer, die auf junge Frauen standen. Sie sprachen dann von den Kindern, von der Familie, und das sie es zum ersten Mal machen. Es waren oft Männer, die wahrscheinlich einfach nur auf Naivität junger Mädchen gestanden sind. Es gab auch nur Reden. Manche haben schon viel Preis gegeben. Haben mich in die Firma genommen. Sie haben kein Geheimnis daraus gemacht.
Ich glaube, ich bin dadurch ziemlich schnell erwachsen geworden.
Die-Frau: Sie würden das gleiche Leben auch ein zweites Mal leben. Wäre da jedoch irgendwas, was sie gerne auslassen/ ändern würden?
LM: Ich hätte meine Schule nicht abgebrochen. Ich hätte alles gleich gemacht mit der Erkenntnis, dass es mir heute so gut geht, wie es mir jetzt geht, aber das hat mir damals niemand garantieren können.
Die-Frau: Wie stehen Sie momentan im Leben?
LM: Ich arbeite im Moment in einem Büro und möchte dann auch auf die Uni gehen und alles nachholen.
Die-Frau: Was war das Ziel des Buches?
LM: Das Buch war mein therapeutischer Zweck. Und gleichzeitig sollte es auch anderen, die so etwas vorhaben, zu raten, es zu lassen. Und dann auch ein Erwachsener, der seine Augen offen halten sollte, denn ich finde es komisch, dass eine 14-jährige sich so schwer irren kann, ohne dass es überhaupt irgendjemand merkt.
Ich will jetzt ein ganz normales Leben führen. Ich akzeptiere, dass es meine Vergangenheit ist und es ist jetzt damit abgeschlossen. Es geht ab nun an nur voran.
Die-Frau: Was ist "normal" für Sie?
LM: So wie für alle andere Menschen auch. Sie gehen arbeiten, in die Schule, haben welche Hobbys und Freunde. Heiraten will ich auf jeden Fall. Ob ich Kinder haben will, weiß ich noch nicht.
vs, Tobias Engel