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Der Untergang der Männlichkeit
30.08.2019
Enrico Ashton ist ein erfolgreicher Mediziner und ist gewandt in der Welt der Politik und will seine Macht nun auf das nächste Niveau bringen. Edgardo di Ravenswood ist ebenfalls aus dem medizinischen Bereich sowie aus dem gleichen Milieu wie Enrico und sucht auch nach der Macht und Anerkennung. Allerdings nicht nur die Sehnsucht nach Macht verbindet diese zwei Männer, sondern auch … eine Frau. Einem ist sie die Schwester, dem anderen ist sie die Geliebte, und beiden ist sie ein Instrument, um ihr Ziel zu erreichen.
 
Der, der sich ihr Geliebter nennt, lässt sie nach einer gemeinsamen Nacht alleine ihrem Bruder, dessen größter Feind Edgardo (stimmgewaltig von Pavel Petrov gesungen) ist, gegenübertreten. Im Rausch der Rache will er das Gefühl, dass er Enrico (Rodion Pogossov) seine Schwester wegnimmt, auskosten. 
 
Enrico sind keine Opfer zu groß im Namen der Macht. Insbesondere, wenn diese nicht einmal von ihm erbracht werden. Als seine Schwester sich weigert, seinen Sponsor Lord Arturo Bucklaw (Albert Memeti) zu heiraten und ihm von ihrer Schwangerschaft berichtet, versucht er als erstes, sie mit Überreden und Überzeugungen, dann mit Lügen zu Heirat zu zwingen. Doch nicht einmal ein gefälschter Brief, welcher von der Verlobung von Edgardo bekundet, verleitet sie dazu, eine Heirat anzudenken. Sie sei bereits einem anderen versprochen und kann daher keine Ehe mit Arturo eingehen. Verzweifelt und empört über die Eigenwilligkeit und den Stolz seiner Schwester schläfert er sie mit einem Betäubungsmittel ein und treibt ihr das Kind ab. 
 

 
Nicht, dass ihr der Verrat ihres Geliebten bereits das Herz zum Bluten gebracht hat und ihre Seele quälte. Nun wurde auch noch das letzte Verbindungsstück, die Frucht ihrer Verbindung mit Edgardo, kaltblütig durch ihren Bruder gewaltsam aus ihrem Leib gerissen. 
 

Ab diesem Zeitpunkt spielen Verena Stoiber (Inszenierung) und Dramaturgin Marlene Hahn mit der Faszination „Hysterie“ anhand der Figur von Lucia di Lammermoor (emotional und stimmgewaltig von Ana Durlovski gesungen). Bereits das gesamte Stück begleiten uns Szenen aus dem Forschungsinstitut von Enrico, welcher sich mit dieser im 19. Jahrhundert weit verbreiteten und meistens Frauen zugeschriebenen Krankheit beschäftigt. Aus dem Griechischen stammend, lässt sich das Wort „Hysterie“ als Uterus übersetzten und wird meistens unbefriedigten und kinderlosen Frauen zugeschrieben. Im 19. Jahrhundert setzen die Ärzte auf Masturbation als Heilmittel. Diese Methode hat ihre Anwendung mit dem Einsetzen der neuen Theorien von Sigmund Freud, welcher dieser Krankheit keine körperlichen, sondern ausschließlich psychischen Ursachen zuschrieb, endgültig verloren. 
 
Wie die Frauen aus dem Forschungsinstitut von Enrico verfällt nun auch Lucia in eine Art Hysterie. Doch diesen Zustand von Lucia nach dem vermeintlichen Verrat des Geliebten und der Kaltblütigkeit des Bruders deutet die international erfolgreiche aus Mazedonien stammende Sängern Ana Durlovski als einen Zustand der Aufgabe und Überforderung. Lucia fühlt sich verlassen und belogen von allen. Nicht nur ihre Seele verblutet, sie blutet auch körperlich aus. Naiv und weltoffen ist sie ihrem Bruder und ihrem Geliebten, der gesamten Gesellschaft entgegengetreten. Und wurde verraten, ausgenutzt, als ein Instrument für die Machtspiele zweier Männer verwendet. Auch der Priester Raimondo Bidebent (Alexey Birkus), welcher zuerst ihr beizustehen scheint, macht von ihrem Zustand Gebrauch und verwendet sie als Schild, um sich nicht gegenüber der Gesellschaft der Tötung von Arturo stellen zu müssen. Heilig ist in diesem Stück nichts. Jeder Mann versteckt sich  hinter dem Schein der Hysterie der Frau und macht sich zu einem Unschuldigen. 
 
Umso entsetzlicher ist das Ende von „Lucia di Lammermoor“. Keine Reue kennen Enrico und Edgardo wie die Capulets und Montagues, welche aus dem tragischen Tod ihrer Kinder eine Lehre gezogen haben. Nein, diese Lehre zieht keiner der Männer. Jeder weint um den Untergang seiner Macht über den Gegner, dem er keine Rache mehr entgegnen kann bzw. scheinbar keine Kraft mehr für eine Rache hat. Enrico weint um den verlorenen Sponsor und dass er kein Instrument mehr hat, einen neuen zu ergattern. 
 
Eine Frau, welche zum Instrument zweier Männer geworden ist, kennt die Welt der Oper bereits. Denken wir nur an die „Zirkusprinzessin“ und ihre Endworte „Durch euren falschen Stolz – seht, was aus mir geworden ist: eine Zirkusprinzessin!“. So brutal und kaltblütig wie in „Lucia di Lammermoor“ war allerdings nie der Bruder und vermeintliche Geliebte. 
 

 
Hervorragende Stimmen und Musik, perfekt die Stimmung und Emotionen wiedergebendes Bühnenbild und Kostüme. Zumindest eine der Stimmen, den Bass Alexey Birkus, dessen Sprachstimme bereits so harmonisch und melodisch ist, werden wir in der kommenden Saison wieder, diesmal in der Hauptrolle in „Don Giovanni“, erleben. 

vs

Fotos: Werner Kmetitsch


die-frau.de