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Die Seufzer der russischen Leidensseele
18.12.2017
Tatjana rollt ihren Ehemann im Rollstuhl zum Tisch, stellt seine Füße ab, fixiert den Rollstuhl und füttert ihn, zuerst mit einem Getränk, dann mit der Suppe, nachdem sie ein Lätzchen auf seinen Schoß gelegt hat. Diese Szene scheint die zentrale Botschaft der Regie von Jetske Mijnssen darzustellen: „Die Gewohnheit hat uns der Himmel geschickt: als Ersatz für das Glück“ singt Larina. Tatsächlich wird damit nichts anderes ausgedrückt wie: die Ehe bringt die Liebe um. Genauer gesagt die Bemühung der Frau um den Mann. Denn der Offizier weist die Fütterung durch Tatjana hastig ab und schwört Onegin seine Liebe zu Tatjana, die ihn jünger und glücklicher macht („Liebe kennt kein Alter“). Die Darstellung der alten Offiziere sollte den jungen Frauen im Publikum allerdings nicht den Eindruck vermitteln, dass ältere Männer nicht einmal den Löffel selbst zum Mund führen können, wo schon der Zweifel kommt, wie sie denn ihre eheliche Pflicht erfüllen wollen, und lieber gleichaltrige aussuchen sollen.

Auch wenn die Szene erst zum Schluss kommt oder genau deswegen, bleibt sie die zentrale Botschaft.


Danach sieht man Tatjana und Onegin zusammen im Bett. In den nächsten Minuten weist sie Onegin zurück - mit der Begründung, ihrem Gatten treu bleiben zu wollen. Was Tatjana wohl unter "Treue" versteht?
Die Angst vor dem Heiraten, vor dem Verlust der eigenen Freiheit durch die Heirat, drückt auch Onegin aus, indem er das Geständnis Tatjanas über ihre Liebe zu ihm zurückweist. Ihm gleicht auch Olga, die etwas leichtsinnige und oberflächliche Schwester von Tatjana. Sie kann dem Antrag von Lensky nicht entgegenkommen, denn damit sieht sie ihre Freiheit und die Möglichkeit zu Flirten erlöschen.
 
Vollkommen sinnlos ist das Duell zwischen Lensky und Onegin. Mit dem Gefühl, dass seine Ehre beleidigt wurde und in einer verzweifelten Situation, wobei seine geliebte Olga, mit der er aufgewachsen ist, mit jedem außer ihm flirtet, ruft Lensky Onegin zu einem Duell. Das Triviale daran ist, dass Onegin Olga, der eigentliche Grund dieses Duells, gar nicht interessiert, sondern nur ein Teil seiner Rache an Lensky, der ihn mit Tatjana zusammengebracht hat, war. Im Endeffekt wird das Duell von Lensky ausgenutzt, seinem aus seiner Sicht sinnlosen Leben ein Ende zu bereiten. Statt auf Onegin zu schießen, richtet er den Revolver zu seinem Kopf, Onegin schießt zuvor.  Es bleibt allerdings offen, ob er sich selbst umgebracht hat oder die Kugel von Onegin, was nichts daran ändert, dass die Situation zu Gewissensbissen seitens Onegin führt. Ein Duell, viel Lärm um nichts. 
 
Als ob Puschkin mit „Eugen Onegin“ in seine eigene Zukunft geblickt hätte. Auch wenn nicht eins zu eins, wiederholt sich das Schicksal von Eugen Onegin und Lenski, der Letztere aufgrund des Flirts zwischen Onegin und Olga sich in seiner Ehre beleidigt fühlt. Denn als Puschkin und seine Frau Natalja, die er mit 32 als 16-jährige heiratete („Liebe kennt kein Alter“), in St. Petersburg Bekanntschaft mit Georges-Charles de Heeckeren d´Anthés machen, zeigt der Letztere sehr aufdringlich und höchst zur Schau gestellte Verehrung Puschkins Ehefrau gegenüber. Sein Schicksal gleicht dem seiner Romandarsteller: der Ehemann stirbt, der Verehrer lebt. Von den Gewissensbissen des Georges-Charles de Heeckeren d´Anthés ist allerdings nichts bekannt, Freunde waren die beiden auch wohl keine. 

 
Wenn man keine Liebe findet, findet man Glück im Leiden
 
"Ich glaube, das wichtigste, das wesentlichste geistige Bedürfnis des russischen Volkes ist das Bedürfnis, immer und unaufhörlich, überall und in allem zu leiden. Mit diesem Lechzen nach Leid scheint es von jeher infiziert zu sein. Der Strom der Leiden fließt durch seine ganze Geschichte; er kommt nicht nur von äußeren Schicksalsschlägen, sondern entspringt der Tiefe des Volksherzens. Das russische Volk findet in seinem Leiden gleichsam Genuss." („Die russische Seele und die Lust am Leiden“, Michaela Friedrich, 31.07.2011) 
 

 
Die Qualen, die die sogenannte "russische Seele" charakterisieren, ziehen sich durch das gesamte Stück durch. Auch wenn sich die Musik dagegen wehrt, bleibt die Stimmung auf der Bühne trüb. Nur die kindische und unbekümmerte Art von Olga am Anfang der Oper bleibt ein einziges Freudengeschrei.
 
Unaufgeklärt bleibt die uns aus dem Zirkus und Magier-Shows bekannte Teilung eines Körpers, versteckt in einer Kiste. So treffen wir beide Teile von Tatjana am Anfang des zweiten Aktes, die am Ende des ersten Aktes voneinander getrennt worden sind, wieder. Der Sinn und Zweck dieser Zweiteilung, die offenbar auf eine Art von Teilung im Inneren von Tatjana hindeuten soll, bleibt allerdings offen.
 

 
Ebenfalls unaufgeklärt bleibt der Sinn und Zweck der gleichen Anzüge und Perücken der Darsteller, die ebenfalls in zwei Gruppen  geteilt sind, wie Yin und Yang, Gut und Böse, Sonne und Mond. Ein wenig eintönig und individualitätslos kamen diese auf jeden Fall vor.
 
Um ein russisches Flair zu erzeugen, wurde die Bühne, die aus einem Quadrat bestand, das die Darsteller selbst gleich wie ihre Charaktere in einem gewissen Rahmen hielt, mit Birkenrindenmustertapeten überklebt. Einen Schnee, der durch einen Spalt im Quadrat herunterfiel, ohne die Darsteller zu berühren, gab es dann auch noch.
 

Eine Premiere gab es ebenfalls für die Ukrainerin Oksana Lyniv, die als erste Frau an der Grazer Oper den Posten der Dirigentin übernimmt.
 
Sinnliche, unter die Haut gehende Musik von Peter I. Tschaikowski, einen der Leidensgenossen der russischen Seele, mit starken und leidenschaftlichen Stimmen von Dariusz Perczak (Eugen Onegin), Oksana Sekerina (Tatjana), Yuan Zhang (Olga) u.am. in Originalsprache ist ein wahrer poetischer Abend und ein Festmal für alle Sinne. 

VS

Foto von Natalja Puschkina: W. I. Gay
Foto vom Duell: Repin
Foto von Tatjana und Eugen Onegin: Samokish-Sudkovskaya
Fotos von der Premiere in der Grazer Oper: Werner Kmetitsch

die-frau.de